Quelle: DUH
Deutsche Umwelthilfe nennt die zwischen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel und seinen Länderkollegen vereinbarte parallele Anwendung veralteter und aktueller Sicherheitskriterien rechtswidrig – Bund entzieht sich der Pflicht, den gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsmaßstab notfalls gegen die Bundesländer durchzusetzen – DUH kündigt Unterstützung von Klägern gegen rechtswidrige Sicherheitsentscheidungen der Aufsichtsbehörden an
Berlin: Das in der vergangenen Woche zwischen Bundesumweltminister Sigmar Gabriel und den für die Atomaufsicht zuständigen Ministern in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein vereinbarte Verfahren zur künftigen Sicherheitsüberwachung von Atomkraftwerken steht im Widerspruch zu klaren Anforderungen des Atomgesetzes und ignoriert die Pflicht der Aufsichtsbehörden, den bestmöglichen Schutz der Bevölkerung vor den Risiken der Atomenergie sicherzustellen. Ein Verlust an Sicherheit in den alternden Atomkraftwerken ist vorprogrammiert. Darauf hat die Deutsche Umwelthilfe e. V. (DUH) hingewiesen und angekündigt, betroffene Bürgerinnen und Bürger zu unterstützen, wenn diese in atomrechtlichen Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren gegen rechtswidrige Entscheidungen klagen.
„Die Verabredung, den nach fast sechs Jahren ermittelten Stand von Wissenschaft und Technik bei der Schadensvorsorge nun nicht zur zwingenden Grundlage für den Betrieb von Atomkraftwerken zu machen, ist ein Skandal. Statt den Vorgaben des Atomgesetzes zu folgen, wollen Bundesumweltminister Gabriel und seine Länderkolleginnen und –kollegen einen Sicherheitsmaßstab light für deutsche Atomkraftwerke etablieren“, sagte DUH-Bundesgeschäftsführer Rainer Baake. „Ohne Not“ habe sich Gabriel „eine Kette um den Hals gelegt“ und seine Pflicht zur Durchsetzung der vom Gesetz vorgeschriebenen bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge von der Zustimmung der Atomaufsichtsbehörden in den Bundesländern abhängig gemacht. Vier von fünf der zuständigen Länderministerien werden von Befürwortern eines Ausstiegs aus dem Atomausstieg aus CDU, CSU und FDP geführt. Mit der in der Bund-Länder-Vereinbarung der letzten Woche enthaltenen Aufforderung an die AKW-Betreiber für die Mehrkosten bei der „Erprobung“ des neuen Regelwerks aufzukommen, bestimmten letztlich die Betreiber, ob die Sicherheit ihrer Reaktoren am aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik gemessen wird oder nicht.
„Gabriel ist unter dem Druck der AKW-Betreiber und ihrer Parteigänger in den Ländern in die Knie gegangen. Die Betreiber fürchten zu Recht, dass bei einer konsequenten An-wendung des geltenden Atomrechts festgestellt wird, dass ihre alternden Reaktoren den aktualisierten Kriterien nicht mehr genügen und teure Nachrüstungen unausweichlich werden“, sagte Baake. „Der Sicherheitsmaßstab des Atomgesetzes ist nicht starr, sondern dynamisch. Nachdem die neuen Sicherheitskriterien für Kernkraftwerke nun endlich vorliegen, müssen sie auch ohne Wenn und Aber angewendet werden“.
Das Bundesverfassungsgericht hatte die atomrechtliche Pflicht zur Schadensvorsorge in seiner Kalkar-Entscheidung wie folgt konkretisiert: „Insbesondere mit der Anknüpfung an den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik legt das Gesetz damit die Exekutive normativ auf den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fest. … Nur eine laufende Anpassung der für eine Risikobewertung maßgeblichen Umstände an den jeweils neuesten Erkenntnisstand vermag hier dem Grundsatz einer bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge zu genügen.“
Die DUH werde nun die fünf Bundesländer, in denen noch Atomkraftwerke betrieben werden, um Auskunft über alle derzeit laufenden atomrechtlichen Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren bitten und diesen Informationsanspruch notfalls auch über das Umweltinformationsrecht durchsetzen, erklärte der DUH-Bundesgeschäftsführer. CDU, CSU und FDP in den Ländern müssten „wissen, ob für sie der Schutz der Bevölkerung vor der Hochrisikotechnologie Atomkraft Vorrang hat, oder der Schutz abgeschriebener Investments schwerreicher Energiekonzerne“. Seine Organisation werde jedenfalls Bürgerinnen und Bürger vor Gericht unterstützen, wenn die Atomaufsichtsbehörden bei ihren Entscheidungen rechtswidrig nicht den Stand von Wissenschaft und Technik als Beurteilungsmaßstab anwenden.
Das Bundesumweltministerium hatte das im Wesentlichen aus den siebziger und achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts stammende, überholte und lückenhafte kerntechnische Regelwerk seit 2003 in einem aufwändigen Abstimmungsprozess mit Experten, Behörden und Betreibern überarbeitet. Nach Fertigstellung und Veröffentlichung des neuen Kerntechnischen Regelwerks (KTR) im Internet, sperrten sich jedoch unionsgeführte Länder und AKW-Betreiber gegen die offizielle In-Kraft-Setzung der Regelungen, die durch die Veröffentlichung im Bundesanzeiger erfolgt. Gabriel verzichtete schließlich auf diesen Schritt. Stattdessen wurde vereinbart, den alten und den neuen Sicherheitsmaßstab bis zum 31. Oktober 2010 parallel anzuwenden. Welcher Maßstab jeweils angewendet wird, soll eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe auf Abteilungsleiterebene im Konsens entscheiden. Für die Kosten der nach der Vereinbarung vorgesehenen Doppelprüfungen sollen die AKW-Betreiber aufkommen, die dazu aber nicht verpflichtet sind. Damit entscheiden letztlich sie selbst, ob bei ihren jeweiligen Atomkraftwerken der aktuelle Stand von Wissenschaft und Technik angewendet wird oder nicht.
Baake: „Das Atomgesetz stellt es nicht in das Belieben der Atomaufsicht, den Stand von Wissenschaft und Technik anzuwenden. Genau dies geschieht aber mit der Bund-Länder-Vereinbarung“.
Anlage zur Pressemitteilung vom 16.06.09
Schadensvorsorge ist ein zentrales Gebot der Hochrisikotechnologie Kernenergie und als solches vom Atomgesetz zwingend vorgeschrieben. Entscheidender Maßstab ist der „Stand von Wissenschaft und Technik“, der seit der Kalkar-I-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts definiert wird als „Einhaltung der Vorsorge gegen Schäden, die nach den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird“. Das Bundesverfassungsgericht konkretisiert die atomrechtliche Pflicht zur Schadensvorsorge in seiner Kalkar-I-Entscheidung (BVerfGE 49, 89 ff. – Kalkar I) wie folgt:
„Insbesondere mit der Anknüpfung an den jeweiligen Stand von Wissenschaft und Technik legt das Gesetz damit die Exekutive normativ auf den Grundsatz der bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge fest. … Nur eine laufend Anpassung der für eine Risikobewertung maßgeblichen Umstände an den jeweilsneuesten Erkenntnisstand vermag hier dem Grundsatz einer bestmöglichen Gefahrenabwehr und Risikovorsorge zu genügen.“
In seiner Whyl-Entscheidung (BVerwGE 72, 300 ff.) führt das Bundesverwaltungsgericht die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiter:
„[Die Exekutive] trägt die Verantwortung für die Risikoermittlung und Bewertung nach § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG; sie hat dabei die Wissenschaft zu Rate zu ziehen. Sie darf sich bei der Beurteilung von Schadenswahrscheinlichkeiten nicht allein auf das vorhandene ingenieurmäßige Erfahrungswissen stützen, sondern muss Schutzmaßnahmen auch anhand bloß theoretischer Überlegungen und Berechnungen in Betracht ziehen, um Risiken auf Grund noch bestehender Unsicherheiten und Wissenslücken hinreichend zuverlässig auszuschließen. Sie darf sich deshalb auch nicht auf eine „herrschende Meinung“ in der Wissenschaft verlassen, sondern muss – nach Maßgabe des „Besorgnispotentials“ – alle vertretbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse in Erwägung ziehen.“