Quelle: DUH
Seit 17 Jahren fürchten Experten, dass zerstörtes Dichtungs- und Dämmmaterial nach einem Leck im Kühlkreislauf eines Atomkraftwerks die zuverlässige Kühlung des Reaktors verhindert – Das Problem hat das Potenzial zum Supergau – Aktuell eskaliert sowohl zwischen den Atomaufsichtsbehörden von Bund und Ländern als auch mit den AKW-Betreibern der Streit über die Konsequenzen – die Öffentlichkeit erfuhr vom aktuellen Streit bisher praktisch nichts
Berlin: Zerstörtes Dichtungs- und Dämmmaterial kann nach einem Leck im Kühlkreislauf von Atomkraftwerken dazu führen, dass der Reaktorkern nicht mehr ausreichend gekühlt wird. Für das Sicherheitsproblem, das die brisantesten Atomunfälle überhaupt betrifft, suchen Reaktorexperten im In- und Ausland seit mehr als einer Dekade vergeblich nach einer Lösung. Simulationsexperimente ergaben in den vergangenen Jahren, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen zur Abhilfe nicht greifen, sondern eher geeignet sind, das Problem aus der Peripherie des Atomkraftwerks in das Herz des Reaktors, den Reaktorkern, zu verlagern. Das berichtet das von der Deutschen Umwelthilfe e. V. (DUH) herausgegebene Umweltmagazin zeo2 in seiner jüngsten Ausgabe.
Von dem Problem, dem Reaktorexperten das Potenzial zum Supergau zuschreiben, können grundsätzlich sowohl Druck- als auch Siedewasserreaktoren betroffen sein. Auslöser für seit nunmehr 17 Jahren andauernde nationale wie internationale Versuche, die drohende Verstopfung der Reaktorkühlung im Falle eines Lecks durch Ver-änderungen im Reaktordesign und im so genannten Notfallmanagement sicher zu vermeiden, war ein Unfall im schwedischen Siedewasserreaktor Barsebäck am 28. Juli 1992. Damals hatte der aus einem Leck regelrecht herausschießende Wasserdampf binnen kurzer Frist rund 200 Kilogramm Dämm- und Fasermaterial von umgebenden Rohrsystemen geschossen. Die zerstörten groß- und kleinteiligen Dämmreste verstopften anschließend die Siebe, über die das am Reaktorboden (Fachjargon „Reaktorsumpf“) zusammenfließende Wasser wieder in den Reaktorkern zurückgepumpt werden muss.
Länderabhängig wurden vor allem seit etwa Mitte der neunziger Jahre in vielen Atomkraftwerken unterschiedliche Maßnahmen – Vergrößerung der Ansaugfläche, Verkleinerung der Siebmaschenweiten, Veränderung des Dämmmaterials – ergriffen, um dem Risiko einer Kernverstopfung nach einem Leck im Kühlkreislauf zu begegnen. Der Kenntnisstand vergrößerte sich ständig, so dass nach einer entsprechenden Stellungnahme der Reaktorsicherheitskommission (RSK) der Bundesregierung im Sommer 2004 weitere Nachrüstungen, insbesondere Verkleinerungen der Siebmaschenweiten, durchgeführt wurden.
Anschließende Simulationsversuche durch den deutsch-französischen Reaktorbauer Areva am früheren Siemens-Standort Erlangen sollten aus Sicht der AKW-Betreiber den endgültigen Nachweis der Beherrschbarkeit des Problems liefern. Doch es geschah das Gegenteil: Die Versuche zeigten, dass (möglicherweise gerade infolge von Nachrüstungen) das Problem aus dem Reaktorsumpf in den Reaktor selbst verlagert werden würde. Dort, so das Ergebnis, würde sich aus feinem Fasermaterial und Korrosionsprodukten im Kühlkreislauf ein immer dichterer Filz auf bestimmten Strukturen im Reaktorkern bilden und eine ausreichende Kernkühlung verhindern.
„Die neueren Erkenntnisse sind hoch brisant und zwingen die Atomaufsicht unver-züglich zu handeln. Der gesamte Vorgang beweist einmal mehr, dass hyperkomplexe Maschinen wie Atomkraftwerke nicht absolut sicher betrieben werden können“, sagte DUH-Bundesgeschäftsführer Rainer Baake. Selbst wenn man, wie in diesem Fall, glaubt, das Problem gelöst zu haben, könne sich dies „im Ernstfall als katastrophaler Irrtum erweisen“. Ganz ähnlich äußerte sich gegenüber zeo2 auch der Reaktorexperte und frühere Verantwortliche für den Schnellen Brüter in Kalkar, Klaus Traube: „Absolute Sicherheit ist unmöglich“.
In der zeo2-Titelgeschichte – Autor ist Gerd Rosenkranz, der Leiter Politik und Presse der DUH und frühere Spiegel-Redakteur – zitiert das Blatt aus teilweise vertraulichen Unterlagen und Protokollen. Danach stellte die Reaktorsicherheitskommission (RSK) nach einer Sitzung mit allen Beteiligten im Dezember letzten Jahres fest, „dass der vereinbarte und (von den Betreibern, DUH) zugesagte geschlossene Nachweis“, dass die Kernkühlung bei einem Leck im Kühlkreislauf sichergestellt sei, nicht erbracht wurde. Die von den Betreibern vorgelegten Unterlagen und Simulationsergebnisse seien „nicht in allen Aspekten nachvollziehbar“. Auch die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS) in Köln bestätigte im März diesen Jahren den Befund: Der Sicherheitsnachweis sei nicht gelungen, heißt es in einer Stellungnahme.
Die AKW-Betreiber wollten weitere Simulationsversuche nun nicht mehr durchführen. Stattdessen kündigten sie an, den Länderaufsichtsbehörden Unterlagen über einzelne Reaktoren vorlegen zu wollen. Seither eskaliert der Konflikt, sowohl zwischen den unionsgeführten Länderaufsichtsbehörden (in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen – in Schleswig-Holstein führt SPD-Sozialministerin Gitta Trauernicht (SPD) die Atomaufsicht in einer großen Koalition) und der Bundesatomaufsicht, als auch mit den Reaktorbetreibern. Am 10. März erklärte das Bundesumweltministerium die bisherigen Versuche „zur Klärung der offenen Fragen bei der Nachweisführung“ in einem Schreiben an die fünf zuständigen Länderministerien für gescheitert. Es bestehe „keine ausreichende Gewissheit über die Störfallbeherrschung“. Deshalb müssten die Länderbehörden die AKW-Betreiber nun zwingen, den Nachweis binnen drei Monaten zu führen.
Seither spielen die Länder auf Zeit. Keines verpflichtete die Betreiber, den Nachweis binnen der vom BMU geforderten Drei-Monats-Frist zu führen. Vier von fünf Ländern ließen die gesetzte Frist zur Reaktion verstreichen und schickten schließlich nach Informationen der DUH Berichte sehr „unterschiedlicher Qualität“ über die AKW in ihrer jeweiligen Zuständigkeit. „Wenn richtig ist, was mehrere mit der Materie befasste Personen der DUH in den letzten Tagen berichtet haben, dann ist klar ersichtlich, dass die Länder versuchen, das rettende Ufer der Bundestagswahl zu erreichen“, sagte der Autor des zeo2-Berichts Gerd Rosenkranz. Eine solche Haltung sei unverantwortlich und zeige, wie weit sich manche Behörden von ihrem Auftrag, größtmögliche Sicherheit der Bevölkerung vor den Gefahren der Atomkraftnutzung zu gewährleisten, entfernt hätten. „Die Atomaufsicht muss jetzt klare Kante zeigen. Wenn Sicherheitsnachweise für realistische Störfallabläufe mit Supergau-Potenzial nicht geführt werden können, dann gibt es nur eins: Abschalten!“
zeo2-Redakteur Marcus Franken sagte, Bürgerinnen und Bürger sei nicht vermittelbar, dass „ein erkennbar ebenso brisantes wie ungeklärtes Sicherheitsproblem zwischen Expertengremien und Behörden hin- und hergewälzt werden kann, ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt“. Bis heute sei kein Betreiber auf die Idee gekommen, die Öffentlichkeit aktiv über die neueren Erkenntnisse zu informieren. Ebenso wenig äußerten sich mit der Materie befasste Atomexperten. Es bestehe der Verdacht, dass angesichts hochkomplexer Technologien wie der Atomenergie, „Realität und Medien-realität mehr und mehr auseinanderfallen.“ Das noch junge Umweltmagazin zeo2 sehe seine Aufgabe auch darin, einer solchen Entwicklung gegenzusteuern. Es sei er-staunlich, dass viele – wenn auch nicht alle – Unterlagen, die dem zeo2-Bericht zugrunde liegen, über das Internet zugänglich gewesen seien. „Wir haben uns vorgenommen, nicht aufzuhören zu berichten, wenn es kompliziert wird – das sind wir unsern Leserinnen und Lesern schuldig“, sagte Franken.