Kohl – Hund der Botanik
Autor: Gregor Dietrich
Keine Pflanzenart weist so unterschiedliche Zuchtformen auf wie der Kohl. Lediglich im Tierreich gibt es eine Entsprechung: den Hund.
Sehr vielseitig ist er, unser Garten-Kohl, obwohl seine Kulturgeschichte vergleichsweise kurz ist. Hätten wir Europäer ihn früher entdeckt, könnten wir wie fast alle anderen Menschen keine Süßmilch trinken, ohne gesundheitliche Probleme zu bekommen. Damit hätten wir uns aber die helle Hautfarbe mit dem dazugehörigen erhöhten Krebsrisiko erspart. Was das soll, fragen Sie? Also der Reihe nach:
Wintergemüse und die Besiedelung des Nordens
Die Gattung Kohl (Brassica) ist mit vielen Arten in den gemäßigten Breiten der Alten Welt beheimatet. Alle Arten sind verwendbar, aber nicht alle wurden und werden genutzt. Als die Frühmenschen nach Norden wanderten, hatten sie ein Problem: die Kalziumversorgung. Grüne Pflanzen und Fisch, die in den Tropen bis heute Grundnahrungsmittel sind, enthalten genug davon. Mit der Besiedelung der Binnenländer des Nordens ergab sich ein Problem: Fisch ist nur beschränkt, grüne Pflanzen sind im Winter kaum verfügbar. Die Strategien, die daraus resultierten, sind vielfältig. In Asien entdeckte man früh die Gattung Brassica und andere Gemüse als auch im Winter genügend Kalzium liefernde Nahrungsmittel. Die Vielfalt der genutzten Arten ist groß. Weiter im Norden entwickelten sich Fischfangkulturen, wie die nach Nordamerika eingewanderten Inuit, was in der Sprache der ihnen benachbarten Stämme Mensch bedeutet- die wir mit dem Schimpfwort Eskimo bezeichnen. In Europa jedoch fehlten nutzbare Pflanzen oder wurden übersehen. Jagd und Viehzucht waren nötig, um das Land zu erschließen. Die einzige ausreichende Calziumquelle war Milch. Das birgt aber Probleme: Milchzucker (Lactose) ist für erwachsene Menschen unverdaulich. Es war also nötig auch als Erwachsene das Abbauenzym Lactase zu produzieren. Zum Glück gibt es immer wieder Veränderung im menschlichen Erbgut, die sogenannten Mutationen. Zu den häufigeren (häufige Mutationen betreffen noch immer nur einen Menschen unter mehreren zehntausend) zählt die Lactaseproduktion bei Erwachsenen. Diese Mutanten konnten somit die Calziumquelle Milch besser nutzen und hatten die größten Chancen Europa zu besiedeln. Daher setzten sie sich setzten wir uns in diesem Gebiet auch durch.
Weisse Haut
Ein weiteres Problem aber ergab sich. Zur Produktion von Lactase brauchen wir Sonnenlicht. Zum Schutz vor Kälte Kleidung, die das Sonnenlicht abhält. Zum Schutz vor krebserregender UV-Strahlung benötigen wir das Hautpigment Melanin, das die Nutzbarkeit von Sonnenlicht ebenfalls einschränkt. Auf etwas mußten unsere Vorfahren verzichten. Die Entscheidung der Evolution: Um jeden Quadratzentimeter von Kleidung freie Hautfläche effizient zum Einfangen von Sonnenlicht nutzen zu können, setzten sich in Europa melaninarme Mutationen durch.
Hund…
Als dann endlich Kohl kultiviert wurde, bildete sich rasch eine große Formenfülle, wie wir sie vom Hund (Canis familiaris) auch kennen. Nur sind Hunde schon viel länger domestiziert als es Kohl ist, somit hätten sie länger Zeit gehabt diese Rassenvielfalt mittels Mutationen zu entwickeln. Tatsächlich ist eine solche Vielfalt und genetische Abweichung vom Wolf aber in der zur Verfügung stehenden Zeit durch Mutation nicht erklärbar, wissen wir doch heute, daß Darwins Mutationsprinzip alleine nur zur langsamen Veränderung von Arten, kaum aber zu neuen Arten führt. Konrad Lorenz vertrat daher die Ansicht, dass Hunde durch Kreuzung aus Wolf (Canis lupus) und Gold-Schakal (Canis aureus) entstanden wären. Tatsächlich führen Hybridisierungen erst zu jener Durchmischung des Erbgutes, die zu etwas Neuem führen kann. Somit sind die vielgeschmähten Bastarde die eigentliche Triebfeder der Evolution. Genetische Untersuchungen brachten aber ein überraschendes Ergebnis: Hunde stammen nicht vom heutigen Wolf ab, sondern waren vielleicht schon vor ihrer Domestikation (Haustierwerdung) eine eigene Sippe. Vermutlich folgten sie dem Menschen und begaben sich schließlich in Symbiose (Lebensgemeinschaft zu beiderseitigem Nutzen) freiwillig in dessen Obhut. Mehrere Unterarten aus verschiedenen Gebieten folgten dem Menschen auf seinen Wanderungen und die verschiedenen aufeinandertreffenden Populationen haben für die nötige genetische Durchmischung gesorgt.
…und Kohl
Auch über die Herkunft unseres Kohls gibt es in fast allen Lehrbüchern Angaben, die mittlerweile eher unglaubwürdig sind. Der Garten-Kohl (Brassica oleracea) soll demnach auf die Wildform B. oleracea ssp. oleracea zurückgehen. Diese Sippe wächst an der europäischen Altlantikküste von Nordspanien bis Nordostschottland wild und ist im ganzen Verbreitungsgebiet ziemlich einförmig. Im Mittelmeergebiet allerdings wächst eine Reihe nahe verwandter Sippen, wie B. cretica, B. rupestris und andere. Es sind kleine (30 cm) bis mittelgroße (max. 150 cm), wenig verholzende, langsamwachsende Sträucher. Ich erinnere mich an Professor Ehrendorfers Erzählungen über die old ladies on the rocks: An steilen Klippen wachsen diese Pflanzen, deren zartes Grün kein Dorn vor dem Gefressenwerden schützt. Nur die Unzugänglichkeit der Klippen bietet Schutz. Dafür sind diese Populationen auch genetisch oft schon seit Jahrtausenden isoliert.
Erste Gartensorten des Kohls tauchten im antiken Griechenland auf. Die alten Griechen werden jedoch wohl kaum an die Atlantikküste gefahren sein, um sich den laut Lehrbüchern wilden Kohl zu holen. Viel eher geschah folgendes: Im antiken Griechenland im Garten zusammengebracht entstanden aus dortigen felsbewohnenden Kohlsippen durch Verkreuzung die ersten Kulturformen. Kohl und seine Zuchtformen breiteten sich dann nach und nach über Europa aus. Als salzliebende Küstenpflanze konnte er an der Atlantikküste verwildern und bürgerte sich ein. Da es dort genügend frischgrüne Pflanzen gibt, ist der Kohl auch keinem hohen Fraßdruck ausgesetzt und besiedelt viele verschiedene Lebensräume, nicht nur unzugängliche Felsstandorte. Diese Unterart wird ein bis 2 m hoher, kurzlebiger Strauch.
Diese Entstehung sogenannter sekundärer Wildpflanzen aus Kulturpflanzen ist kein Einzelfall. Wir kennen solche Fälle beispielsweise auch von Mais und Hafer. Nun aber zu den Kulturformen des Kohls!
Kohlköpfe
Wenn bei uns von Kohl die Rede ist, dann denken wir erst einmal an Kohlköpfe. Der erstmals bei Hildegard von Bingen im 12. Jhdt. erwähnte Kopf-Kohl (B. oleracea Capitata grp.) zeichnet sich dadurch aus, dass einerseits sein Spross verkürzt ist, seine Blätter andererseits kaum über das Knospenstadium hinauskommen, also einen runden Kopf bilden. Ein solches Steckenbleiben in einer frühen Entwicklungsstufe, sozusagen in der Kindheit, ist bei Kulturpflanzen (wie auch bei Haustieren) nichts ungewöhnliches und wird als Neotenie bezeichnet.
Sind die Blätter des Kohlkopfes gerippt, so hat man den für uns typischen Kohl vor sich, der ohne Zusatzbezeichnung einfach als Kohl im Handel ist. Eigentlich nennt man ihn aber Wirsing (Sabauda grp.). Auch längliche Formen mit weniger gerippten Blättern gibt es. In manchen Gegenden muss man ihn Wirsing nennen, denn dort ist mit der simplen Bezeichnung Kohl der Grün-Kohl gemeint. Aber davon später.
Hat unsere Riesenknospe glatte Blätter, so kennt man sie bei uns unter der Bezeichnung Kraut (Capitata grp.). Je nach Blattfarbe kommt die Vorsilbe Weiß- oder Rot- dazu. Durch Gärung wird Weißkraut zu Sauerkraut.
Blütenknospen
Eine andere Form der Neotenie finden wir bei der als Botrytis grp. im weiteren Sinn klassifizierten Sippe. Botrys ist die Traube: Es geht also um den Blütenstand. Zwei Untergruppen kennen wir: Die Italica grp. ist uns als Brokkoli bekannt. Hier haben wir es mit einer drastischen Verkürzung der Lebensdauer zu tun: Der Strauch, dessen Kulturformen meist nur mehr zweijährig sind, wächst überhaupt nur mehr einjährig. Ließe man ihn fruchten, er würde in einem Sommer seinen Lebenszyklus vollenden. Weiter geht hier noch der Karfiol (Botrytis grp. im engeren Sinn). Er entwickelt viel zu viele Blütenknospen, die wieder im Knospenstadium steckenbleiben. Will man Samen ernten, so muß man diesen Blütenkopf entfernen, denn erst aus den Seitenknospen können vollständige Blüten erscheinen. Diese beiden Gruppen sind durch Übergänge verbunden, die z.B. als Romanesco bekannt sind.
Kohlrabi
Von der Caulorapa grp., den Stammrüben, ist praktisch nur mehr Kohlrabi (Gongylodes grp.) in Kultur. Wieder ist der Spross verkürzt. Diesmal aber trägt er keine Knospe, sondern er selbst ist der begehrte Pflanzenteil. Apfelrund schwellen die kurzen Stängel an.
Die Normalen
Nicht alle Kohl-Gruppen weichen so stark von der Strauchform der rückverwilderten Sippe ab. Viele wachsen durchaus aufrecht, mit nicht gestauchten Stämmen. Was nicht heißt, daß nicht andere Teile der Pflanze in Frühstadien stecken bleiben. So wachsen die Seitenknospen beim erstmals 1821 beschriebenen Sprossen-Kohl zu einiger Größe heran, bevor sie sich ungeerntet im Frühling öffnen. In deutschen Landen werden diese Kohlsprossen Rosen-Kohl genannt.
Aber auch ohne auffällige Neotenie auskommende Sorten gibt es: Der typische Kohl des Nordens ist der bei Plinius (23-73 n. Chr.) erwähnte Grün- oder Braun-Kohl (Sabellica grp.) mit gekräuselten Blättern. Bei uns ist er eher ein exotisches Gemüse, das erst nach Frosteinwirkung geerntet wird.
Andere Sorten
Das Sortenspektrum unseres Kohls ist noch viel größer. Auch diverse Übergänge gibt es. Der Markstamm-Kohl (Medullosa grp.) beispielsweise steht zwischen Grünkohl und Kohlrabi: Der Stamm ist hoch, aber oberwärts verdickt und eßbar. Wer allerdings hat diese Pflanze jemals gesehen? Hegi fragt in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts schon danach, ob er nicht ausgestorben sei. Er existiert noch in einigen Sammlungen ist z. B. noch über Arche Noah erhältlich, gärtnerische Bedeutung hat er jedoch keine mehr. Viel wichtiger aber sind die vielen Sorten des Zier-Kohls.
Bunte Blüten für Herbst und Winter
Bis vor zwei Jahren gab es ausschließlich eine Samenmischung stammlosen Zier-Kohls im Handel. 2000 zierte den Katalog von Austrosaat am Titelbild ein hübscher Kohl. Mehrere Sorten werden angeboten, stammlose wie hohe und sogar Sorten für den Schnitt. Für die Vase werden die grünen Blätter entfernt. ‚Moonrise‘ sieht so Rosen täuschend ähnlich! Zierkohl ist im Sommer eher unscheinbar. Erst wenn es kalt wird beginnen seine Farben zu leuchten. So zieren die Pflanzen den ganzen Winter hindurch. Im Frühjahr werden sie abgeräumt, oder man läßt sie ihre goldgelben, goldlackähnlichen Blüten entfalten. Eigentlich ist es verwunderlich, dass der Zier-Kohl so lange im Schatten der Nutzsorten gestanden hat. Die neue Sortenvielfalt läßt auf einen Boom hoffen.
Praxistipp
Kohl gehört zu den Starkzehrern und muß daher auf einem gut mit Kompost versorgten Boden gepflanzt werden.
Die Pflanzen werden von vielen Krankheiten und Schädlingen heimgesucht. Kohlhernie durch Bakterien verursachte krebsartige Wucherungen ist durch Fruchtwechsel zu vermeiden (nur einmal in vier Jahren Kohlgewächse an derselben Stelle anbauen!). Kohlweißlingsraupen werden am besten händisch abgesammelt, chemische Bekämpfung lohnt sich nicht. Blattläuse und die bei trockenem Wetter die Blätter durchlöchernden, im pannonischen Klima oft ganz vernichtenden Erdflöhe sind die hartnäckigsten Schädlinge. Brennnesselbrühe (24 Stunden angesetzt) mindert das Problem Erdflöhe und erledigt Blattläuse.
Gegen Erdflöhe, Kohlfliege und Kohlweißlinge hilft ein Kaltauszug aus Paradeiserlaub. Zwei Handvoll gut zerkleinerte Blätter und Geiztriebe setzt man in zwei Liter Wasser 2-3 Stunden an und sprüht damit die befallenen Kohlpflanzen.