WissenschaftlerInnen benennen neue Herausforderungen für Umweltverbände, Umweltpolitik und Forschung
Bonn/Lüneburg. – Fast 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben einen Migrationshintergrund. Doch weder in den Institutionen des amtlichen Natur- und Umweltschutzes noch in den Umweltverbänden treten diese Menschen sichtbar in Erscheinung. Auch in den wissenschaftlichen und den öffentlich-politischen Nachhaltigkeitsdebatten fehlt die interkulturelle Perspektive.
Weshalb wird diese Gruppe bisher von Natur- und Umweltschutzorganisationen nicht erreicht? Was wissen wir über die Naturvorstellungen und das Umweltbewusstsein von MigrantInnen, über ihr Umwelthandeln und ihr Engagement für Natur- und Umweltschutz? Welche Möglichkeiten und Hindernisse – sowohl auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft als auch bei den MigrantInnen selbst – zeigen sich, wenn es darum geht, in Fragen der Naturraumgestaltung und -nutzung machtvoll zu partizipieren?
Das gerade abgeschlossene DNR-Projekt „Biodiversität (er)leben und gestalten in Vielfalt“ sollte beispielhafte erste Erkenntnisse zu diesen Fragen gewinnen. Als ersten Schritt konzentrierte es sich auf die Situation „in den eigenen Reihen“ und analysierte die Hintergründe und möglichen Verbesserungsansätze für eine Einbeziehung der „interkulturellen Perspektive“ in die Arbeit der Umweltverbände. Es gelang aber auch schon, einige deutsch-migrantische Kooperationsnetzwerke aufzubauen und bereits existierende zu verstetigen und damit einen beidseitigen Lernprozess anzustoßen.
Eine Fragestellung des Projekts betraf die medialen Möglichkeiten, das Thema kultursensibel in die türkische Migrantenbevölkerung als größte ethnische Gruppe zu transportieren und dort zu verankern. Hierzu führte das Zentrum für Türkeistudien in Essen eine Teiluntersuchung durch.
Ein wichtiges Ergebnis war, dass auf lokaler Ebene bereits vielfältige Projekte stattfinden, deren Initiative und Gelingen von engagierten Einzelpersonen, häufig aus den migrantischen Milieus, abhängt. Demgegenüber hat das Thema auf Bundesverbandsebene bisher keinen Raum gefunden.
Folgende Handlungsnotwendigkeiten für die Einbeziehung der interkulturellen Perspektive wurden identifiziert:
· Wissenslücken müssen gefüllt werden. Das betrifft sowohl den Kenntnisstand in den Umweltverbänden als auch die bisher mangelhaften Daten über die Natur- und Umwelt-Bezüge von MigrantInnen generell. Hier gibt es Forschungsbedarf.
· Vorstellungen, Vorurteile und Bilder über Menschen mit Migrationshintergrund und deren Verhältnis zu Natur- und Umweltfragen müssen angesprochen und reflektiert werden. Dazu sind Sensibilisierungsworkshops, Beratungs- oder Unterstützungsmaßnahmen, zum Beispiel zur interkulturellen Kommunikation, von externen ExpertInnen erforderlich.
· Unterstützende Strukturen innerhalb und jenseits existierender Organisationen und Netzwerke müssen geschaffen werden. Das verlangt zum einen eine aktive Öffnung hin zu migrantischen Gruppierungen und Organisationen, um gemeinsam nach für alle Beteiligten geeigneten Strukturen Ausschau halten zu können. Zum anderen sind konkrete gemeinsame Aktivitäten und Projekte notwendig, um entsprechende praxistaugliche Strukturen entwickeln und erproben zu können.
Deutlich wurde, dass Integration auch im Umweltbereich als ein zweiseitiger Prozess zu verstehen ist. Nicht zuletzt im Sinne der Nachhaltigkeit sind interkulturelle Themen von Umweltthemen nicht zu trennen.
Jenseits von gerechtigkeitsmotivierten Empowerment-Ansätzen eröffnet Interkulturalität ein enormes Potenzial für gesellschaftliche Entwicklungen und damit auch für den Natur- und Umweltschutz. Denn durch den Zugewinn an neuen, vielleicht auch ungewohnten Sichtweisen auf die Natur und Umgangsweisen mit ihr erweitert sich die Vielfalt an Problemlösungsmöglichkeiten und damit an Handlungsoptionen erheblich.
Kulturelle Vielfalt, als Chance gedacht, eröffnet allen Beteiligten neue Perspektiven und liefert nicht nur dem Natur- und Umweltschutz einen Mehrwert.
Dieses Projekt wurde gefördert durch das Bundesamt für Naturschutz mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Quelle: DNR, Deutscher Naturschutzring e.V.